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Kunst und Typografie im öffentlichen Raum

Kunst und Typografie im öffentlichen Raum sind ein „Freiluft-Museum“ der besonderen Art. Denn sie sind umsonst und draußen. Tübingen hat eine beachtliche Anzahl an Kunstwerken auf Plätzen, in Straßen, in Parks und an Gebäuden. 
Nur wenige Stadtschriften überleben als urbanes Kulturerbe, aber alle prägen für einen bestimmten Zeitraum das Gesicht einer Stadt. Die „Tübinger Typografien“ sind ein Streifzug durch eine mehr als 500-jährige Kunst- und Kulturgeschichte,  sie sind verbunden mit Geschäftshistorien und identitätsstiftend für den Betrieb, den sie zieren.  Eine solche Betrachtung „könnte anderen Kommunen und Stadtbeschreibungen als Vorbild dienen”. 
(Prof. Dr. Wilfried Setzler)

Rund ums Nonnenhaus

Radlerkönig

Am Stadtgraben

Bronze, 1985

Die Skulptur lässt Spielraum für Interpretationen: der bescheidene Monarch, der die Freiheit auf dem Fahrrad genießt; die Entschelunigung in einer hektischen Welt; der Radfahrer, der in einer hektischen Welt König ist. Die kleine Bronzestatue im Außenbereich des Cafés Piccolo Sole d'oro am sogenannten „Affenfelsen“ gehört zu den sympathischsten Kunstwerken in Tübingen. 
Susanne Diefenbach (1911–1997) ist eine der bedeutendsten Bildhauerinnen der Nachkriegszeit in Tübingen.

Radlerkönig am Nonnenhaus
Garamond

Am Nonnenhaus 6

16. Jahrhundert

Am Nonnenhaus bei Geigenbau Gornowskij finden wir eine Renaissanceschrift, der eine ästhetische Vollkommenheit nachgesagt wird. Venezianische Stempelschneider und Schriftgießer fügten im 15. Jahrhundert die karolingischen Minuskeln (Kleinbuchstaben) und römischen Majuskeln (Großbuchstaben) zu einer Zweialphabetschrift zusammen, die sich von den Schriften des Hochmittelalters klar abhob. Sie hat als außerordentlich gut lesbare „Antiqua“ bis heute Bestand. 
Die nach dem französischen Schriftschneider und Buchdrucker Claude Garamond (1480–1561) weltweit bekannte Schrift blieb lange der Maßstab für die Schriftgestalter in ganz Europa.

Typografie_Garamond
Kräuterbuch

Beim Nonnenhaus 6

Marmor, 1981

 Im 16. Jahrhundert legte der berühmte Arzt und Botaniker Leonhart Fuchs (1501–1566) in der Tübinger Altstadt einen „Hortus Medicus“ an, den ersten Botanischen und Arzneipflanzengarten der Universität. Das steinerne Buch ist diesem Pflanzenkundler und Professor der Medizin an der Universität Tübingen gewidmet, dessen einflussreiches „New Kreüterbuch“ 1543 erschien. Nach ihm ist auch die Fuchsie benannt. Hier am malerischen Ammerkanal lebte er mit seiner Familie im ehemaligen Dominikanerinnenkloster.
Das Künstlerehepaar Wolfgang Kubach (1936–2007) und Anna Kubach-Wilmsen (1937) machte sich weltweit einen Namen mit Büchern aus Stein.

Leonhart Fuchs-Buch am Nonnenhaus
Golden Type

Beim Nonnenhaus 7

Vorbild 19. Jahrhundert, neu 1989

In die Geschichte ging der vielseitig begabte Künstler William Morris (1834–1896) vor allem als Begründer der sozialistischen Bewegung in Großbritannien ein und als einer der Gründer der „Arts and Crafts Movement“, ohne die Werkbund, Art Nouveau, die Secession und das Bauhaus nicht denkbar wären. Die Rückkehr zur individuellen Handarbeit sollte den Handwerker als Künstler und den Künstler als Handwerker würdigen. Morris' nach einem historischen Vorbild aus der Renaissance stammenden Schrift sollte kräftig, rechtwinklig, gut lesbar und alles andere als viktorianisch verschnörkelt sein.  Die Golden Type repräsentiert ein neues Schriftenzeitalter: vom Text- zum Informationsdesign. 

Typografie_Golden Type
Selbst im Regen

Nonnengasse 19 vor der Stadtbücherei

Marmor, 1986

„Selbst im Regen verliert der Leopard seine Flecken nicht“, ist ein afrikanisches Sprichtwort, das an die Unveränderlichkeit der eigenen Identität erinnert. Die Skulptur im Boden vor der Stadtbücherei entstand anlässlich der Landeskunstwochen 1986. (Das Kunstwerk wird momentan restauriert.)
Das Schweizer Künstlerehepaar Silvie (1935) und Chérif Defraoui (1932–1994) zählt zu den Pionieren der Multimediakunst. 

Kunst im öffentlichen Raum

Rund um den Marktplatz

Marktbrunnen

Am Markt

Vorbild 1617, neu 1948

Der Brunnen wurde 1617 vom herzoglichen Hofbaumeister Heinrich Schickhardt im Stil der Renaissance nach einem Vorbild aus Bologna entworfen und von dem Tübinger Steinmetz Georg Miller in Sandstein gehauen. Anfang des 20. Jahrhunderts war der Marktbrunnen derart verfallen, dass die Oberbürgermeister  Viktor Renner und Adolf Hartmeyer nach 1945 eine Erneuerung des Beckens, der Figurenreihe und des Neptuns vorantrieben. Mithilfe der französischen Besatzer und einer einmaligen Spendenkampagne kam man auf die stolze Summe von fast 93.000 Reichsmark, mit der die in der Bevölkerung nicht umumstrittene Neugestaltung des Brunnens kurz vor der Währungsreform schon fast finanziert war. 1948 wurde der Brunnen in einer Feierstunde enthüllt.
Im Rankwerk des Marktbrunnens verbergen sich die Konterfeis zahlreicher Tübinger Honoratioren.

Marktplatzbrunnen in Tübingen
Fette Fraktur

Mayer'sche Apotheke, Hirschgasse

Vorbild 1513, neu 1850

Fälschlicherweise bezeichnen wir alle Gebrochene Schriften als „Fraktur”-Schriften. In der Tat war die Fraktur über 400 Jahre die bevorzugte Buch- und Verkehrsschrift der Deutschen. Im Ausland wird die Fraktur gemeinhin als „Deutsche Schrift“ bezeichnet, oft mit politischem Beigeschmack. Heute stehen Frakturschriften stellvertretend für eine lange Tradition von Handel, Gewerbe und Gastronomie, für Brauchtum und Gemütlichkeit. Gebrochene Schriften sind zu allen Zeiten entworfen worden. Die „Fette Fraktur“ wurde von Johann Christian Bauer (1802–1867) geschnitten und erschien zum ersten Mal 1850 bei der Schriftgießerei C. E. Weber in Stuttgart. Rauten am Fußende, tief geschnäbelte Oberlängen und die charakteristischen „Elefantenrüssel“ an den Großbuchstaben kennzeichnen die meisten Frakturen. 

Typografie_Fraktur
Bacchantin

am Rathaus/ Ecke Haaggasse

Holz, frühes 17. Jahrhundert

Neben den sonstigen Sgraffito-Bemalungen gehört eine kleine fast nackte Figur an der Südostecke zu den Besonderheiten des Tübinger Rathauses.  Die ursprünglich als „Rebmännle“ bezeichnete Skulptur soll wahrscheinlich eine Bacchantin darstellen, die – beschwingt vom Weingenuss –, ihre Kleidung hinter sich wirft. Sie wurde um 1600 angebracht und ist ein Verweis auf die Bedeutung des Marktplatzes als Weinumschlagsort und ein sinnliches Zitat an die einst bedeutende Weinvergangenheit Tübingen,  die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht. Tübingens Unterstadt, die sogenannte „Gôgei”, ist heute noch sichtbarer Ausdruck der Weingärtnervergangenheit in Tübingen. 

Bacchantin am Rathaus Tübingen
Optima

Marktplatz 

1958

Der weltbekannte Schriftdesigner und Lehrer Hermann Zapf skizzierte 1950 während einer Besichtigung der Franziskanerkirche Santa Croce in Florenz die in Stein gemeißelten Inschriften der Grabsteine auf einem 1000-Lire-Schein, da er sein Notizbuch vergessen hatte. Acht Jahre später erschien nach ausgedehnten Lesbarkeitsstudien die Schrift Optima. Das filigrane Schriftbild besticht durch offene und klare Formen sowie ausgeprägte Proportionen.  Ihre Wirkung beruht nicht zuletzt auf dem Goldenen Schnitt, auf dessen Prinzip die Buchstaben basieren. Wegen ihres eleganten Aussehens wird die Optima in der Werbung gerne im Bereich Kosmetik und Parfümerie verwendet. Sie gehört zu den 20 schönsten Schriften weltweit.

Typografie_Optima
Auseinandersetzung

Im Lammhof, Am Markt 7

Bronze, 1979

Die Figuren erinnerten Eugen Schmid (Oberbürgermeister  von Tübingen 1975–1999) an die historische Zweiteilung der Stadt. Denn die Oberstadt der Professoren und Beamten trennte die Unterstadt der Handwerker und Tagelöhner nicht nur topografisch. „Was lag näher, als an Gôgen und Studenten, an die obere und die untere Stadt zu denken.“ 
Der Bildhauer Karl-Henning Seemann (1934) schuf zahlreiche Figuren für den öffentlichen Raum, die oft ironische Überzeichnungen von menschlichen Charakteren sind. (Die Figuren warten noch auf ihre erneute Aufstellung.)

Kunst im öffentlichen Raum
Wallau

Linz'sche Apotheke am Marktplatz

Vorbild Rotunda 14./15. Jahrhundert, neu 1930

Auf den ersten Blick erscheint sie nicht außergewöhnlich, auf den zweiten aber erkennen wir bei der Aufschrift an der Linz'schen Apotheke am Marktplatz ein A mit eigenartigem Querstrich und ein O, dessen Achse geneigt ist. Die Wallau gehört zu den Gebrochenen Schriften, was wir aber erst an ihren Kleinbuchstaben erkennen. 
1906 beschäftigte die renommierte Schriftgießerei Gebr. Klingspor neben berühmten Malern und Buchkünstlern einen noch unbekannten Ziseleur und ausgebildeten Zeichner.  Rudolf Koch (1876–1934) sollte der Schriftgießerei mit seinen vielen Weltschriften noch alle Ehre machen. Zur Wallau wurde Koch von einem Blatt aus einem Bologneser  Meßbuch (14. Jh.) inspiriert. Er arbeitete viele Jahre mit der Breitfeder an seinem Entwurf und widmete am Ende moderne Fraktur dem Mainzer Buchdrucker Heinrich Wallau.

Typografie_Wallau

Ein Rundgang durch die Typografiegeschichte anhand der individuellen Aufschriften einer Stadt ist vermutlich einzigartig in Baden-Württemberg. Die Führung „Altstadtschriften. Tübinger Typografien” bieten wir bei Interesse für Schriftbegeisterte und die, die es werden wollen, auf Nachfrage an (nur für Gruppen in den Sommermonaten ab 17 Uhr) .